ros pikata ros


für Orgel

Partitur

Zu den nachhaltigen Erlebnissen meines Aufenthaltes im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf 2003 gehörte die Entdeckung eines Buches mit einem merkwürdigen, sprachakrobatischen, absurden, heiter bis dramatischen Text von Oskar Pastior: o du roher iasmin, 43 Intonationen zu „Harmonie du soir“ von Charles Baudelaire.

Der 2006 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnete deutsch-rumänische Schriftsteller Oskar Pastior bearbeitete Baudelaires romantisches Gedicht Harmonie du soir (1857) auf ungewöhnlich experimentelle, ja „rücksichtslose“ Art und Weise, so dass von dem einst feinfühlig-melancholischen Gestus nichts übrig blieb. Pastior erfindet Sprache und den Sinn der Lyrik neu, so wie man es in seinem gesamten Werk immer wieder findet, auch wenn die Mittel jeweils andere sind. Eines der sprachkompositorischen Mittel, die Pastior virtuos verwendet, ist das Anagramm.

Für meine Komposition ros pikata ros  habe ich das erste Anagramm des Buches verwendet: baude laïre. Den Namen des Dichters hat Pastior in 12 Strophen anagrammiert. Der so entstandene Text erscheint wie ein Klangkontinuum aus 8 verschiedenen Buchstaben. Aus den Buchstabenfolgen ergeben sich manchmal wie zufällig verstehbare, teils skurrile Wörter, wie „adriabeule“ oder „idealbauer“. Sie leuchten gleichsam wie Inseln aus dem Klangkontinuum heraus, erwecken den Anschein von Semantik, die aber sogleich im Buchstabenmeer wieder versinkt. Dieses Prinzip und die Textstruktur habe ich auf meine Komposition übertragen: zunächst eng am Text entlang wird eine fixierte 7-Tonfolge anagrammatisch permutiert und den Wortdauern entsprechend rhythmisiert. Zwischen „Sense“ und „Nonsense“ schwankend wandert diese Tonfolge dann unermüdlich aus lichten Gefilden durch dichte Verquickung bis zu clusterartigen Verklumpungen, um sich schließlich in rasanter Kreiselbewegung zu erschöpfen.

Anlass der Komposition war die umfassende Restaurierung der Eule-Orgel in der Leipziger Nikolaikirche. Der Organist Reimund Böhmig führte einer Reihe von Komponisten die phantastischen klanglichen Möglichkeiten der Orgel vor. Die im Anschluss entstandenen Kompositionen wurden durch Böhmig im Juni 2006 dort uraufgeführt.

Eine klanglich spektakuläre Aufführung erfolgte 2010 durch Thomas Noll beim 6. internationalen Festival für zeitgenössische Orgelmusik – Orgelmixturen in der Kölner Jesuitenkirche Sankt Peter. Der Organist kostete hier das reiche Klangspektrum der außergewöhnlichen Orgel voll aus.

(k)eine Begegnung
Anfang September 2006, wenige Wochen vor seinem Tod, hatte ich das große Glück, Oskar Pastior zumindest am Telefon noch kennen lernen zu dürfen. Nachdem ich ihm in einem Brief von meinem Orgelstück berichtet hatte, rief er mich umgehend an, um sich über Einzelheiten der Komposition zu informieren. Er zeigte sich sehr interessiert und wir vereinbarten, dass ich ihm nach der Uraufführung Ende September eine Aufnahme zukommen lasse. Wir sprachen am Telefon vor allem über experimentelle Lyrik und Oskar Pastior zeigte sich sehr offen für meine Absicht, weitere seiner Texte musikalisch zu verarbeiten. 
Das Gespräch hatte mich sehr beflügelt und ich hoffte, über zukünftige Arbeiten mit ihm noch sprechen zu können. Groß war der Schock, als ich am 5. Oktober früh in nüchterner Berliner Flughafenatmosphäre eine knappe SMS erhielt: Pastior ist tot.