Jeu de Temps


für Oboe und Harfe

Partitur

Jeu de Temps ist im Frühjahr 2003 während meines Aufenthaltes im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf entstanden. Ich hatte mich dort insbesondere mit der Wahrnehmung von Zeitverläufen beschäftigt. Ausgehend von der Überlegung, dass wir sehr verschiedene Ereignisse gleichzeitig wahrnehmen können, ergab sich die Frage, inwieweit wir in der Lage sind, auch deren zeitlichen Verlauf parallel zu verfolgen. Wir nehmen ohnehin den zeitlichen Ablauf bestimmter Ereignisse subjektiv unterschiedlich wahr. Besonders wenn markante Ereignisse gleichzeitig ablaufen, differiert die zeitliche Wahrnehmung, je nach dem, wie unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist. Mit steigender Ereignisdichte wird das genaue Verfolgen natürlich immer schwieriger. Ein eindrückliches Beispiel aus der Musik ist John Cages Europera 3.
Für meine Komposition hat mich vor allem interessant, wie die Beschleunigung und Verlangsamung bestimmter Prozesse wahrgenommen werden, insbesondere dann, wenn beides gleichzeitig stattfindet. In der Komposition Jeu de Temps bestimmen verschiedene übereinander gelagerte Zeitleisten oder Zeitstränge den musikalischen Verlauf. Eine Zeitleiste ist dabei eine spezifische nicht-lineare Beschleunigung oder Verlangsamung.
Das Stück ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil regulieren die Zeitleisten den Einsatzabstand einzelner Töne, wodurch mehrere „Melodien“ entstehen. Aus der Überlagerung der Zeitleisten resultiert eine permanente Verdichtung und Entspannung, die letztlich das musikalische Erscheinungsbild prägt.
Im zweiten Teil wird das Prinzip der übereinander geschichteten Zeitleisten auf die Organisation ganzer Motive ausgedehnt, das heißt, eine Zeitleiste bestimmt den Beginn eines Motivs und die Häufigkeit, mit der es auftritt. So verändert sich allmählich das klangliche Erscheinungsbild, da einzelne Motive am Anfang häufig, dann immer seltener und gegenläufig einzelne Motive am Anfang selten erscheinen – oder überhaupt erst später hinzukommen – und dafür am Ende das Geschehen bestimmen. Aus der Überlagerung der Zeitleisten ergibt sich außerdem eine besondere Verdichtung am Anfang und am Ende des zweiten Teils.